Selfie-Wahn: Verkommt LinkedIn zum banalen B2B-Instagram?

Immer öfter spült mir LinkedIn allerlei Selfies ohne bildlichen Business-Kontext in meinen News-Stream: Bieten diese zusammenhanglosen Ego-Inszenierungen erkennbaren B2B-Content? Nein, tun sie nicht. Dennoch erreichen sie teils astronomisch hohe Like-Zahlen. Ich frage mich: Was zur Hölle hat das auf LinkedIn verloren?

 

Selfie-Wahn auf LinkedIn
(Selfie / Pixabay-Lizenz)


Die Typologie derer, die oft und gerne auf LinkedIn ihr eigenes Gesicht ohne event-getriggerten Anlass posten, lässt sich durchaus klassifizieren: Zahlreiche selbsternannte Influencer sind darunter, ebenso die Riege der "Coaches". Beides Begriffe, die nicht geschützt sind – jeder darf sich so nennen.

Beim LinkedIn-Selfie-Wahn wird es mitunter grotesk bis realsatirisch: Ehemalige und amtierende Schönheitsköniginnen sind genauso vertreten wie betagte und ausgewiesen narzisstische Ex-Politiker, die schon zu ihren beruflich aktiven Zeiten eine mediale Zumutung waren. 

Und jüngst blockierte der Post einer Uni-Professorin meinen News-Feed, deren Selfie bei mir 1980er Kindheitserinnerungen an den gedruckten Quelle-Katalog wachrief: Eine übertrieben lächelnde Frau posiert in blütenweißem Kleid vor mediterraner Kulisse. 

B2B-Bezug irgendwo im Bild? 

Nope.

Zu dieser (Pseudo-)Prominenz gesellen sich Otto-Normal-LinkedIn-User, die sich in allen möglichen (und unmöglichen), aber stets zusammenhanglosen (!) Situationen selbst fotografieren, selbiges auf LinkedIn posten und ernsthaft glauben, damit business-relevanten Content geliefert zu haben.

LinkedIn-Selfies: keine Relevanz (und oft auch keine Ästhetik)

Erschwerend kommt hinzu: 

Ob Ex-Politiker, "Influencer" oder Normal-User: Nicht jedes Gesicht will man in Nahaufnahme in seinem LinkedIn-Feed sehen. 

Will man einfach nicht. 

Aus ästhetischen Gründen. 

Sorry, isso.

Es sei denn, man hat ein tiefergehendes dermatologisches Interesse (Anzahl der Hautporen oder ähnliches).

Ob ästhetisch oder nicht: So oder so fehlt es bei diesen inszenierten Selbstporträts an bildlich relevantem Business-Kontext.

Um den Vorwurf, deplatziert auf LinkedIn zu agieren, zu entkräften, nutzt die Selfie-Fraktion das Post-Feld oberhalb des Bildes gerne für Alibi-B2B-Content (viel Buzzword-Bingo, viele Emojis). Problem: Was oberhalb dieser kontextlosen Selfies im Post-Textfeld steht, lesen nur wenige User – und von diesen wenigen rezipieren die meisten nur die ersten Zeilen im sichtbaren Bereich (ohne auf "mehr anzeigen" zu klicken). 

Der typische Blickverlauf bei einem Post sieht laut LinkedIn-Studien so aus:


Ein Facebook-Erlebnis vergegenwärtigte mir recht rabiat, wie oberflächlich sich User mit Posts beschäftigen. Der LinkedIn-Vergleich funktioniert an dieser Stelle, da Look & Feel der beiden Plattformen sich stark ähneln. 

Machen wir eine kleine Zeitreise:

Ein Traumurlaub in der Burnout-Klinik? 

Vor einigen Jahren zeigte der Facebook-Post eines Kontaktes das Bild eines großen Gebäudes an einem Flussufer, inmitten von Bäumen, umgeben von grünen Wiesen.

Euer Blogger ist ein Text-Mensch. Folglich las ich auch, was die Userin oberhalb dieses Bildes ausführlich geschrieben hatte. Der Textbeginn lautete:

➤ "Ich ziehe die Reißleine und denke an mich. Meine Akkus sind leer, Körper und Seele verlangen nach einer Pause. Ich nehme eine Auszeit und begebe mich für die nächsten 6 Wochen in eine psychosomatische Klinik".

Ich scrollte durch die zum Post gehörigen Kommentare und stieß auf einen, der genau das belegen sollte, was für die Social-Media-Welt allgemein gilt: Es sind äußerst flüchtige Medien, das "Kleingedruckte" eines Posts lesen wenige – und noch weniger lesen vollständig, was im Post-Feld getextet wird.

Besagter Kommentar lautete:

➤ "Na denn, viel Spaß und einen schönen Urlaub! Lass es dir gutgehen!"

Schreibt das jemand, der verstanden hat, dass hier eine junge Frau von ihrer Erschöpfungsdepression berichtet, die sie in einer Klinik behandeln lassen will? 

Sicher nicht. Stattdessen: Bild gesehen, erste Zeile gelesen und schließlich gelikt bzw. kommentiert. Ohne weiteres Nachdenken und ohne wirklich gerafft zu haben, wovon der Post handelt.

Zurück zu LinkedIn:

Visagen statt Content: Narzisstische LinkedIn-Selfies nerven

Wohlgemerkt: Die Dosis (bzw. fehlender Kontext) macht das Gift. Wer auf einem Business-Event oder einer Messe ein Bild von sich macht, hat damit das Relevanz-Kriterium erfüllt. Das ist aus B2B-Sicht bedeutsam und menschelt im richtigen, authentischen und spontanen Sinne (= das Gegenteil von Inszenierung). 

Mir geht es hier um die Sorte User, die ohne thematischen Bezug sich selbst porträtiert, das Ganze mit substanzlosem Blabla oder Kalendersprüchen der Sorte "Glaube immer an dich selbst!" garniert und damit nur ein einziges Ziel verfolgt...

...Likes zu bekommen, um das eigene (meist überdurchschnittlich fragile) Selbstwertgefühl zumindest für 30 Minuten amalgamartig aufzufüllen. 

Genau das ist die Motivation unzähliger Instagram-User. 

Braucht es das auch auf LinkedIn? 

Nein, braucht es nicht!

Was der Selfie-Wahn, die Bild-Zeitung und Donald Trump gemein haben

Nun verhält es sich mit solchen irrelevanten Ego-"Inhalten" wie mit der Bild-Zeitung oder Donald Trump: Es ist nicht schlimm, dass es sowas gibt. Schlimm ist, dass es Menschen gibt, die das kaufen, lesen, wählen – oder im Falle von LinkedIn liken.

Und so schließe ich mit einem Zitat von Obi-Wan Kenobi aus der vierten Episode der weltbesten Filmreihe, das da lautet:

"Wer ist der größere Narr? Der Narr – oder der Narr, der ihm folgt?"*

In diesem Sinne: Bleibt in Sachen LinkedIn relevant und feiert visuellen Content, der anlassgetrieben Kontext und Mehrwert bietet. Für (un)schöne Äußerlichkeiten ohne bildlichen B2B-Bezug bitte auf Instagram wechseln.

Viele Grüße
Euer LinkedIn- und Instagram-Fan Mathias

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*PS: Das Zitat von Obi-Wan Kenobi lautet in der deutschen Synchronisation von 1977/1978: 

➤ "Wer ist der größere Tor? Der Tor – oder der Tor, der ihm folgt?", 

➤ im englischen Original "Who's the more foolish? The fool – or the fool who follows him?". 

Da der altbackene Begriff "der Tor" (nicht "das", stattdessen verwandt mit "töricht") kaum noch genutzt wird, verwende ich ein geläufigeres Synonym.

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