Musik 4.0: Warum Spotify & Co. Fluch und Segen zugleich sind

Euer Blogger kann auf vieles verzichten – aber niemals auf seine CD-Sammlung. Ich war bereits Musik-Nerd, als man noch Musikkassetten in ein klobiges Gerät namens Walkman steckte und eine schwergängige Play-Taste drückte. Ein kurzweiliger Ritt durch meine knapp viereinhalb Jahrzehnte als Musik-Besessener.

Wir schreiben das Jahr 1986: Ich bin 9 Jahre alt und der allererste Lieblingssong meines Lebens heißt "Hip to Be Square", geschrieben von der US-Rockband Huey Lewis & The News (wenn ihr die "Zurück in die Zukunft" Filme kennt, seid ihr Huey und seinem Sound bereits begegnet). 

Richtig angefixt wurde ich schließlich im Jahr 1988 durch die Platte "1987" der britischen Hardrock-Band Whitesnake (das Eröffnungs-Riff des zweiten Songs "Bad Boys" jagt mir noch heute wohlige Schauer über den Rücken).

Zunächst besaß ich Musik nur auf Kassetten. Meine erste LP (tatsächlich Vinyl, die großen runden schwarzen Dinger) kaufte ich 1990: "The Razor's Edge" von AC/DC ("Thunderstruck"). Meine erste CD erwarb ich 1992: "Countdown to Extinction" von der US-Metal-Band Megadeth (steht auch heute noch in meiner Sammlung und knallt wie am ersten Tag).

Ich wurde maximal auf physische Tonträger konditioniert, sodass ich auch 2022 neben dem akustischen das haptische und visuelle Erlebnis eines Musik-Albums brauche. 

Aber: Gleichzeitig halte ich Spotify und YouTube für Göttergaben. Warum? Weil das Dasein als Musik-Nerd vor der Digitalisierung ungleich teurer und mühseliger war.

Musik-Nerd: Wie ich Musik früher entdeckte – und wie heute

Bis in die späten 1990er entdeckte ich Bands und Platten hauptsächlich über folgende Kanäle:

  • Musik-Magazine
  • Musik-TV (MTV & Viva)
  • Radio
  • CDs anhören im Plattenladen

Heute unvorstellbar, aber wie viele andere auch stapfte ich damals in Saturn, Mediamarkt & Co, fischte für mich interessante CD-Neuerscheinungen aus den Regalen, legte den Stapel auf den "Anhör-Tresen" und bat den dortigen Mitarbeiter, die Silberlinge einzulegen. So zappte ich mich durch die Tracks, um zu entscheiden, ob ich diese Scheiben brauche oder nicht.

Aber auch das bewahrte euren gutgläubigen Blogger nicht vor kapitalen Fehlinvestitionen. Eine kleine Zeitreise ins Jahr 1993, als das vierte Album der britischen Gothic-Metal-Pioniere Paradise Lost namens "Icon" erschien. Das Metal-Magazin meines Vertrauens (Rock Hard) fabulierte, es handle sich um "den ersten echten Metal-Klassiker der 1990er", der sich "auf einem Level mit den 1980er-Meilensteinen 'Ride the Lightning' (Metallica) und 'Reign in Blood' (Slayer)" bewege. 

Unkritisch-unreflektiert bestellte euer damals 16-jähriger Blogger diese neue Paradise-Lost-CD, zumal mir die Vorgängerscheibe "Shades of God" sehr gut gefallen hatte (und das bis heute tut, Anspieltipp: "Pity the Sadness").

…doch beim Nachfolger wurde ich bitter enttäuscht: Auch nach dem fünften Durchlauf zündete "Icon" bei mir einfach nicht. Das Songwriting wirkte lahm und blutleer, arg beeinflusst vom damals überdominanten, mainstream-orientierten schwarzen Metallica-Album ("Enter Sandman", gähn…). Kurzum: ein CD-technischer Fehlgriff!

Während der 90er tätigte ich solche fremdgesteuerten Fehlkäufe häufig: Die "Experten" der Metal-Magazine berichteten von "Klassikern", die man als Metal-Fan haben müsse, da man sonst keiner sei. Und so gab euer Blogger viel Geld für Scheiben aus, die sich als Rohrkrepierer entpuppten. 

Ganz schlimm in Erinnerung habe ich das Album "Graceful Inheritance" der US-Band Heir Apparent. Angepriesen als "80er Meilenstein des Power Metal" entpuppte sich das Ding als saft- und kraftloses höfisches Geträller. Selbst ein Pop-Rock-Song wie "Hip to Be Square" (siehe oben) hat da deutlich mehr Punch.

Das Grundproblem im Prä-Digitalisierungszeitalter: Vor allem ältere Scheiben bekam man nicht im örtlichen Plattenladen, um vorab reinhören zu können. Verzichten oder blind kaufen – das waren oft die einzigen Optionen.

Spotify & YouTube: Segen…

Hätte es damals bereits so etwas wie Spotify oder YouTube gegeben, halleluja, was hätte ich Kohle gespart!

Besonders Spotify beeindruckt mich, weil man hier selbst die obskursten 80er Metal-Scheiben in digitaler Form findet und kostengünstig (Premium, ohne Werbung) bis kostenlos (Basis, mit Werbung) hören kann.

Nach wie vor gilt aber: Gefällt mir ein Album, kaufe ich es als CD (Vinyl ist mir mittlerweile zu unhandlich). Parallel bin ich aber in den letzten Jahren zum leidenschaftlichen Spotify- und YouTube-User geworden, wenn es darum geht, Bands und Alben zu entdecken und unverbindlich anzutesten.

…und Fluch zugleich

Soweit mein Blick aus Sicht des Musik-Konsumenten. Aus der Perspektive des Musik-Schaffenden gestaltet sich das Zeitalter der Digitalisierung dagegen ungleich ambivalenter.

Euer Blogger ist selbst Musiker, schreibt eigene Songs und kann (auch wenn ich das Musikmachen als reines Hobby betreibe) die angespannte Situation von Künstlern verstehen, die von ihrer Arbeit leben wollen. 

Die Vorteile der Digitalisierung aus Musiker-Sicht:

➤ Musik hochwertig aufzunehmen und zu produzieren ist 2022 deutlich leichter und kostengünstiger als 1992: Brauchte es früher stets teure Studios, Produzenten und Toningenieure, kann man mit etwas Talent und Muße heute ein qualitativ hörbares Album in den eigenen vier Wänden via Laptop aufnehmen.

➤ Seine Musik unters Volk zu bringen ist dank der Digitalisierung 2022 ebenfalls deutlich leichter als 1992: Brauchte es früher immer eine Plattenfirma, können Musiker heute dank Web und Social Media ihre Songs im Alleingang reichweitenstark distribuieren.

Die Nachteile der Digitalisierung aus Musiker-Sicht:

➤ Mit dem Internet kam die Gratis-Mentalität. Viele User fragen sich: Warum für Musik zahlen, wenn es sie auf YouTube & Co. kostenlos gibt?

➤ Die Horror-Storys über minimalste Cent-Beträge, die Musiker pro Spotify-Stream bekommen, sind allgegenwärtig. Was hier allerdings gerne übersehen wird: Häufig sind es auch nachteilige Plattenlabel-Deals, die dazu beitragen, dass beim Musik-Schaffenden nur Kleinstbeträge ankommen.

Warum Musiker im digitalen Zeitalter fundamental umdenken müssen

Musiker brauchen 2022 ein komplett anderes Mindset als 1992:

Unwiderruflich vorbei sind die Zeiten, in denen Bands über physische Plattenverkäufe die meisten Einnahmen machten. Heute verteilt sich der Umsatz auf Streaming-Einnahmen, Live-Auftritte, den Verkauf von Merchandising (Shirts & Co.) und den Verkauf von CDs/LPs.

Auch vorbei sind die Zeiten, in denen Musiker in Labels so etwas wie einen Arbeitgeber sehen konnten, der alles regelt, damit der Kreative sich auf seine Kreation konzentrieren kann. 

Das ging schon in den 80ern und 90ern regelmäßig glorreich daneben, weil Plattenfirmen erwerbswirtschaftliche Unternehmen sind, die Bands und ihre Alben als Produkte sehen – mit einer entsprechenden Umsatz- und Gewinnerwartung. Das schließt betriebswirtschaftlich gesprochen "das potenzielle Ende des Produktlebenszyklus" mit ein. 

Liebe Musiker, bitte hört auf, über "das böse Spotify" zu jammern. Ein Grund, warum das Streaming immer beliebter wird, ist seine Benutzerfreundlichkeit: Einem Teenager werdet ihr nicht glaubhaft erklären können, warum er Plastik-Hüllen mit darin enthaltenen Polycarbonat-Scheiben (= CDs) kaufen soll, wenn er alternativ auf seinem Smartphone mit einem Swipe auf tausende Songs digital und ortsunabhängig zugreifen kann.

Professionelle Musiker und Bands müssen 2022 ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen: Sie müssen Songwriter, Manager, Vertriebler und Marketer in Personalunion sein. Dann klappt es auch mit den Einnahmen.

Ich kaufe dann mal trotzdem weiter CDs…

…weil die Begriffe "Musik", "Album" und "Artwork" für mich physisch untrennbar miteinander verbunden sind. Gleichzeitig möchte ich Plattformen wie Spotify, YouTube oder Amazon Music als musikalische Recherche-Tools aber nicht missen.

Ob auf physischem Tonträger oder rein digital: Lasst uns Musik feiern. Sie hat mir immer geholfen, dunkelste Stunden zu meistern und hellste Tage zu feiern – und wird auch für den Rest meiner Tage der kraftspendende und mutmachende Soundtrack für ausnahmslos alles sein, was dieses Leben bereithält. 

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