Zukunft der Google-Suche [Teil 3]: Warum generative KI kein "Innovator's Dilemma" verursacht

Mitte 2024 launchte Google unter dem Namen "AI Overviews" KI-Antworten in der US-Suche. Diese Reaktion auf neue Tools wie ChatGPT zeigt: Der Suchmaschinenriese weiß, dass er schnell handeln muss, wenn er seine Marktanteile im Bereich der Online-Suche verteidigen will. Manche Analyst*innen sehen Google in einem klassischen "Innovator's Dilemma" nach der Definition des verstorbenen Harvard-Professors Clayton M. Christensen. Ich widerspreche.


Die Theorie des "Innovator's Dilemma" nach Clayton M. Christensen: Evolution versus Revolution
"Innovator's Dilemma" nach Clayton M. Christensen


Der erste Teil meiner Blog-Serie zur Zukunft der Google-Suche (Link am Beitragsende) beleuchtete folgende Punkte:

  • Google-Suche 2024: Vom Disruptor zum Disruptierten?
  • Die US-Medienresonanz zu "AI Overviews" Anfang Juni 2024
  • Googles "AI Overviews": Die Ängste der Medien

Der zweite Teil (Link am Beitragsende) fokussierte folgende Themen:

  • Googles Milliarden-Umsatz: So setzt er sich zusammen
  • Wie Google bislang Werbeflächen in seiner Suche platziert
  • Generative KI: Googles bislang größte Challenge
  • Wie wird Google in KI-Antworten Werbeflächen platzieren?

In diesem vorliegenden dritten Teil schildere ich, warum sich Google meiner Meinung nach in keinem "Innovator's Dilemma" befindet:

  • Das "Innovator's Dilemma" nach Clayton M. Christensen
  • Das Beispiel Digitalkamera
  • Warum Google 2024 in keinem "Innovator's Dilemma" steckt

Klären wir zunächst die Begriffe:

Das "Innovator's Dilemma" nach Clayton M. Christensen

Clayton M. Christensen (1952-2020) war ein US-amerikanischer Akademiker und Harvard-Professor, der die Theorie der "disruptiven Innovation" entwickelte. US-Wirtschaftsmedien bezeichneten ihn als "einflussreichsten Management-Denker seiner Zeit" ("the most influential management thinker of his time").

In seinem (maximal lesenswerten) Buch "The Innovator's Dilemma" schreibt er:

"Konkret geht es um Unternehmen, die über Jahre hinweg ihre Branche angeführt hatten, die aber scheiterten, als sie mit großen Umwälzungen und Marktveränderungen konfrontiert waren."
"Die Entscheidungen, die ursächlich für ihren Niedergang sind, werden zu einem Zeitpunkt getroffen, an dem diese Unternehmen als die besten ihrer Branche gelten".
"Trotz ihrer Ressourcenausstattung, [...] und trotz ihrer finanziellen Mittel haben erfolgreiche Unternehmen mit den besten Führungskräften ihre größten Schwierigkeiten damit, Dinge zu tun, die nicht zu ihrem Geschäftsmodell passen." 

Daraus leitete Christensen folgende Thesen ab:

➤ Etablierte Unternehmen verlieren Marktanteile, weil sie auf ihren Kundenstamm hören und an ihrem Kernprodukt bzw. -service festhalten. Diese wollen sie schrittweise verbessern, statt sie umzukrempeln. Sie folgen dem Prinzip "Evolution statt Revolution".

➤ Währenddessen bieten neue Marktteilnehmer derselben Zielgruppe eine Innovation (Produkt oder Dienstleistung), die anfangs von geringerem Wert und technisch unterlegen ist – jedoch das Potenzial hat, den Markt disruptiv umzukrempeln. Diese Herausforderer folgen dem Prinzip "Revolution statt Evolution".

Was bedeutet das im Kontext des Dilemma-Begriffs? Duden, übernehmen Sie:

"Di­lem­ma, das: Zwangslage, Situation, in der sich jemand befindet, besonders wenn er zwischen zwei in gleicher Weise schwierigen oder unangenehmen Dingen wählen soll oder muss"

Das Innovator's Dilemma nach Christensen bedeutet für etablierte Unternehmen: 

➤ Wählt das etablierte Unternehmen die Evolution, läuft es Gefahr, von der technischen Revolution überrannt zu werden und nicht mehr wettbewerbsfähig zu sein.

➤ Wählt das etablierte Unternehmen dagegen die technische Revolution, vernachlässigt es die Evolution und gefährdet so sein bisheriges Kerngeschäft.

Soweit kurz und prägnant die "Innovator's Dilemma"-Theorie von Clayton M. Christensen. Schauen wir uns das an einem historischen Beispiel an.

"Innovator's Dilemma" nach Christensen: Das Beispiel Digitalkamera

Christensen nutzt als Beispiel in seinem Buch die deutsche Kamera-Erfindung Leica (Abkürzung für "Leitz[sche] Camera", benannt nach dem deutschen Unternehmer Ernst Leitz II, 1871-1956): 

1913 wurde in Deutschland der erste Prototyp einer Kleinbildkamera entwickelt, die sogenannte Ur-Leica. 1925 ging das Produkt in Serie, 1932 waren weltweit 90.000 Kameras im Einsatz, 1961 eine Million.

Um wachsen zu können, ging Leica 1996 an die Börse. Zehn Jahre später stand das Unternehmen vor dem Aus – disruptiert durch die Digitalkamera. 

Die Geschichte der Digitalfotografie begann bereits in den 1960er-Jahren in der kalifornischen Universitätsstadt Stanford. 1975 produzierte Kodak die erste Digitalkamera (mit einem stolzen Gewicht von vier Kilogramm). Den Nutzen erkannte damals niemand. Vielmehr fragte man sich 1975, warum jemand ein Foto auf einem Fernsehbildschirm sehen wollen würde. 

In den 1980er-Jahren fand sich eine erste Anwendergruppe: die professionelle Mode- und Werbefotografie. Für Amateurfotograf*innen waren die Geräte Mitte der 1990er-Jahre noch zu teuer und die Bildqualität zu schlecht.

Das änderte sich schnell: 2003 wurden weltweit erstmals mehr digitale als analoge Kameras verkauft. Und Leica? Das Unternehmen geriet 2005 in eine existenzbedrohende Schieflage. 

Entlang dieser Geschichte Leicas zeigt sich das "Innovator's Dilemma" nach der Theorie Christensens:

➤ Die Digitalfotografie erfüllte zunächst nicht die Qualitätsanforderungen des analogen High-End-Segments.

➤ 2004 schätzte Leica die Entwicklung komplett falsch ein: Man glaubte, der "elitäre Leica-Kundenstamm" habe kein Interesse an "billiger und liebloser Digitalfotografie". Zitat: "Die Digitaltechnik ist nur ein Intermezzo". Bald hatten japanische Hersteller den Markt für Digitalkameras besetzt.

Ein etabliertes Unternehmen (Leica) geriet in das Dilemma, ...

➤ ... entweder seine Ressourcen mehrheitlich in die Evolution seines Kernprodukts (analoge Fotografie) zu investieren, und somit eventuell durch eine technische Revolution (digitale Fotografie) gefährdet zu werden

➤ oder eine technische Revolution (digitale Fotografie) mitzugehen und so Marktanteile in seinem etablierten Kerngeschäft (analoge Fotografie) zu verlieren.

Springen wir ins Jahr 2024: Warum es für Google eine solche (durch eine technische Innovation namens generative KI verursachte) Zwangslage nicht gibt, schauen wir uns jetzt an.

Generative KI: Darum steckt Google 2024 in keinem "Innovator's Dilemma"

Mitte 2024 sehen einige Analyst*innen Google in einer durch eine technische Innovation ausgelösten Zwangslage: 

➤ Der Suchmaschinenriese als etablierter Marktführer mit seiner etablierten Suchtechnologie auf der einen Seite.

➤ Herausforderer wie der ChatGPT-Anbieter OpenAI mit generativer KI als neuer Technologie auf der anderen Seite.

Befindet sich Google in einem Dilemma nach der Definition von Christensen? 

Nein, tut es nicht. 

Aus zwei Gründen:

1. Google muss seine Ressourcen nicht umkrempeln, um die Innovation mitgehen  zu können: Der Suchmaschinenbetreiber ist im Thema KI zuhause, er hat die Datengrundlage und er hat IT-Ressourcen. Google muss nicht von seiner etablierten Technologie abweichen. Das Unternehmen wird nicht genötigt, eine Revolution zu vollziehen. Die generative KI-Technologie lässt sich in der Google-Welt evolutionär umsetzen. 

Das unterscheidet die Causa Google von der Causa Leica: Letztgenanntes Unternehmen hätte etliche Geschäftsbereiche komplett umkrempeln müssen, um den Weg der Digitalfotografie frühzeitig ernsthaft mitgehen zu können. 

2. Googles Zielgruppen sind a) Menschen, die online etwas suchen, und b) Unternehmen, die per Werbung diese Menschen erreichen wollen. Beide Gruppen erwarten nicht, dass der bestehende Google-Service (Antworten auf Suchanfragen) in seiner technischen Beschaffenheit unverrückbar ist. Das war er nie in der knapp 30-jährigen Google-Historie. Und dass sich Googles werbebasiertes Umsatzmodell auch mit KI-Antworten verwirklichen lässt, zeigte Teil 2 meiner Blog-Serie (Link am Ende dieses Beitrags).

Kurzum: Google sieht sich angesichts der generativen KI-Technologie unter Zugzwang – aber nicht in einer Zwangslage.

Zukunft der Google-Suche: Wie geht es weiter?

Die nächsten Wochen und Monate werden die Google-Suche, wie wir sie kennen, verändern. Dass Google generative KI-Antworten dauerhaft in seine Suche integrieren wird, steht für mich außer Frage.

Offen bleibt die äußerst spannende Frage:

➤ Was bedeutet die Integration von KI-Antworten für Suchtreffer-Klicks und damit für die Besucherzahlen von Websites?

Das schauen wir uns im vierten Teil von "Zukunft der Google-Suche" an.

Quelle:

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