"Zersetzender Pseudo-Journalismus": Wie gefährlich ist Content Marketing?
Eine Studie der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung attackiert das Content Marketing: "Zersetzende Kräfte" eines unternehmensnahen "Pseudo-Journalismus" gefährdeten die öffentliche Meinungsbildung und den unabhängigen Journalismus. Fundierte Kritik oder plakative Panikmache?
"Content Marketing – Wie 'Unternehmensjournalisten' die öffentliche Meinung beeinflussen": So lautet der volle Titel der 2016 erschienenen Studie. Bevor wir sie näher beleuchten, schauen wir uns ihre Verfasser an.
Herausgeber ist die Otto-Brenner-Stiftung (OBS) mit Sitz in Frankfurt am Main. Sie ist eine Stiftung des bürgerlichen Rechts der Gewerkschaft IG Metall und will Wissenschaft und Forschung fördern. Namensgeber Otto Brenner (1907-1972) war ein deutscher Gewerkschafter, Politiker und Vorsitzender der IG Metall.
Man sieht sich als "kritisches gesellschaftspolitisches Forum, das sich mit der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands und Europas auseinandersetzt". Für Schlagzeilen sorgte die OBS bereits früher (Quelle Wikipedia):
➧ 2010 warf man der ARD vor, bei der Berichterstattung über die Finanzkrise journalistisch "eklatant versagt" zu haben. Auch die Deutsche Presseagentur (dpa) bekam ihr Fett weg: Diese hätte der Bundesregierung nach dem Mund geredet.
➧ 2013 untersuchte die OBS die Fernsehprogramme des SWR und des NDR. Die Studie attestierte den Sendern eine "Boulevardisierung" des Programms, das zu wenig informativ sei.
➧ 2014 dann der Frontalangriff auf Wikipedia: "PR und Manipulation" seien in den Einträgen "allgegenwärtig".
2016 fokussiert die OBS nun das Content Marketing.
Die Kernaussagen der rund 100-seitigen Publikation auf einen Blick:
➧ Mit Content Marketing böten vor allem Großunternehmen zunehmend eigene Online-Formate (Websites, Blogs, Videos, Apps) mit einer "gewollt journalistischen Anmutung".
➧ "Millionenfache Klicks" zeigten, dass eine breite Öffentlichkeit die neuen Unternehmenspublikationen annehme, ohne diese als marketinggetrieben erkannt zu haben.
➧ Die DAX-Konzerne würden sich bei ihren Content-Marketing-Aktivitäten durchgängig zu erkennen geben. Andere Unternehmen dagegen gäben sich intransparent und wollten wohl ihre "interessengeleitete Kommunikation" "verschleiern".
➧ Das "journalistische Marketing" würde auch bestimmte Werte in die Öffentlichkeit transferieren: darunter einen "materialistischen Lebensstil", "Leistungsdenken" und "unkritische Technikgläubigkeit".
Der klassische und unabhängige Journalismus sei derzeit krisengeschüttelt und würde durch das aufkommende Content Marketing noch mehr bedrängt. Letzteres definiere sich nicht mehr über Haltung, sondern nur noch über Handwerk.
Die Studie verklärt den Berufstand des (klassischen) Journalismus: Der Journalist erscheint als durchgängig kritisch-reflektierender, äußerst verantwortungsvoller Mensch, der es der Bevölkerung ermöglicht, sich eine eigene Meinung zu bilden. Ein Idealbild, das nicht durchgängig der Realität entspricht.
Gleichzeitig rückt die OBS-Studie das Marketing in ein pauschalisierendes Negativlicht: Gefährliche Manipulatoren und Propagandisten, die den naiven User in die Irre führen wollen. Auch das entspricht mehrheitlich nicht der Realität.
Die Verfasser der Studie attestieren dem Content Marketing also eine "gewollt journalistische Anmutung" und kritisieren, es würde einen "materialistischen Lebensstil", "Leistungsdenken" und "unkritische Technikgläubigkeit" propagieren...
...das, Freunde, könnt ihr exactement so auch etlichen Vertretern des klassischen Journalismus vorwerfen:
Der eindimensionalen Argumentation der Studie folgend müssten zudem auch alle privaten Blogger an den Pranger gestellt werden: Diese produzieren tonnenweise Content, sind oftmals keine klassischen Journalisten und transferieren munter ihre eigenen Werteansichten in die Welt.
Mein Eindruck: Die OBS teilt in ihrer Studie die Welt in gut und böse auf. Hier das arme Opfer namens Journalismus, dort der böse Dämon namens Content Marketing. Sorry, Freunde, die Rechnung geht so nicht auf.
Schlimmer noch: Das ist meines Erachtens ansatzweise selbst eine propagandistische Verzerrung (vor allem angesichts solch unsäglicher Vokabeln wie "zersetzend").
Und auch das werfe ich dieser Studie vor: Was ist euer Menschenbild? Der Bürger als tumber Ochse, der vor Unternehmensbotschaften geschützt werden muss, weil er selbige nicht hinterfragt?
Natürlich sollten sich bei jeder Content-Marketing-Aktion die Initiatoren eindeutig zu erkennen geben. Aber Meinungsbildung und kritische Reflexion sind auch eine Holschuld. Gerne bemühe ich den alten Kant:
"Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen."
Botschaften jeglicher Coleur zu hinterfragen und sich ausgewogen zu informieren, kann niemandem abgenommen werden. Das muss jeder Einzelne selbst tun. Alles andere wäre – siehe oben – selbstverschuldete Unmündigkeit.
In einer Marktwirtschaft, die allen Anbietern Chancengleicheit bieten will, ist es absolut legitim, dass Unternehmen Content produzieren und publizieren. Das scheinbar per se und in toto als Manipulationsversuch oder gefährliche Desinformation abzutun, empfinde ich als respektlos und nicht haltbar.
Aber es ist in meinen Augen absolut legitim, wenn Unternehmen mit hochwertig aufbereiteten und informativen Inhalten ihre Zielgruppen erreichen wollen.
Lasst es mich wissen: Wie schätzt ihr das Content Marketing ein?
Link-Tipps:
Kritiker werfen dem Content Marketing Verschleierung vor. (smiley unter CC0 1.0) |
"Content Marketing – Wie 'Unternehmensjournalisten' die öffentliche Meinung beeinflussen": So lautet der volle Titel der 2016 erschienenen Studie. Bevor wir sie näher beleuchten, schauen wir uns ihre Verfasser an.
Content-Marketing-Studie: Wer steckt dahinter?
Prof. Dr. Lutz Frühbrodt erscheint als Haupt-Autor der Publikation. Der Publizist und Medienkritiker lehrt Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt.Herausgeber ist die Otto-Brenner-Stiftung (OBS) mit Sitz in Frankfurt am Main. Sie ist eine Stiftung des bürgerlichen Rechts der Gewerkschaft IG Metall und will Wissenschaft und Forschung fördern. Namensgeber Otto Brenner (1907-1972) war ein deutscher Gewerkschafter, Politiker und Vorsitzender der IG Metall.
Man sieht sich als "kritisches gesellschaftspolitisches Forum, das sich mit der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands und Europas auseinandersetzt". Für Schlagzeilen sorgte die OBS bereits früher (Quelle Wikipedia):
➧ 2010 warf man der ARD vor, bei der Berichterstattung über die Finanzkrise journalistisch "eklatant versagt" zu haben. Auch die Deutsche Presseagentur (dpa) bekam ihr Fett weg: Diese hätte der Bundesregierung nach dem Mund geredet.
➧ 2013 untersuchte die OBS die Fernsehprogramme des SWR und des NDR. Die Studie attestierte den Sendern eine "Boulevardisierung" des Programms, das zu wenig informativ sei.
➧ 2014 dann der Frontalangriff auf Wikipedia: "PR und Manipulation" seien in den Einträgen "allgegenwärtig".
2016 fokussiert die OBS nun das Content Marketing.
Die Kritikpunkte der Content-Marketing-Studie
Betätigen sich Content Marketer als sprichwörtliche Rattenfänger? (Pied Piper unter CC0 1.0) |
Die Kernaussagen der rund 100-seitigen Publikation auf einen Blick:
➧ Mit Content Marketing böten vor allem Großunternehmen zunehmend eigene Online-Formate (Websites, Blogs, Videos, Apps) mit einer "gewollt journalistischen Anmutung".
➧ "Millionenfache Klicks" zeigten, dass eine breite Öffentlichkeit die neuen Unternehmenspublikationen annehme, ohne diese als marketinggetrieben erkannt zu haben.
➧ Die DAX-Konzerne würden sich bei ihren Content-Marketing-Aktivitäten durchgängig zu erkennen geben. Andere Unternehmen dagegen gäben sich intransparent und wollten wohl ihre "interessengeleitete Kommunikation" "verschleiern".
➧ Das "journalistische Marketing" würde auch bestimmte Werte in die Öffentlichkeit transferieren: darunter einen "materialistischen Lebensstil", "Leistungsdenken" und "unkritische Technikgläubigkeit".
Der klassische und unabhängige Journalismus sei derzeit krisengeschüttelt und würde durch das aufkommende Content Marketing noch mehr bedrängt. Letzteres definiere sich nicht mehr über Haltung, sondern nur noch über Handwerk.
Eine Dämonisierung des Content Marketings…
…die ich in der von der OBS vorgebrachten Form für realitätsfern und wenig fundiert halte. Mit dieser mehr als einseitigen Schwarz-Weiß-Malerei wird man weder dem Marketing, noch dem Journalismus, noch dem einzelnen User gerecht:Die Studie verklärt den Berufstand des (klassischen) Journalismus: Der Journalist erscheint als durchgängig kritisch-reflektierender, äußerst verantwortungsvoller Mensch, der es der Bevölkerung ermöglicht, sich eine eigene Meinung zu bilden. Ein Idealbild, das nicht durchgängig der Realität entspricht.
Gleichzeitig rückt die OBS-Studie das Marketing in ein pauschalisierendes Negativlicht: Gefährliche Manipulatoren und Propagandisten, die den naiven User in die Irre führen wollen. Auch das entspricht mehrheitlich nicht der Realität.
Content-Marketing-Kritik: Wer im Glashaus sitzt…
Sind Kritik, Kontrolle und Haltung im klassischen Journalismus allgegenwärtig? (Quelle: eigener Schnappschuss) |
Die Verfasser der Studie attestieren dem Content Marketing also eine "gewollt journalistische Anmutung" und kritisieren, es würde einen "materialistischen Lebensstil", "Leistungsdenken" und "unkritische Technikgläubigkeit" propagieren...
...das, Freunde, könnt ihr exactement so auch etlichen Vertretern des klassischen Journalismus vorwerfen:
- Was ist mit all den Hochglanz-Lifestyle- und Fashion-Magazinen?
- Was mit den reißerischen Boulevard-Medien?
- Was mit den fragwürdigen "News"-Formaten mancher Privatsender, die die oben genannten Wertvorstellungen via Dauerfeuer in die Öffentlichkeit befördern?
Der eindimensionalen Argumentation der Studie folgend müssten zudem auch alle privaten Blogger an den Pranger gestellt werden: Diese produzieren tonnenweise Content, sind oftmals keine klassischen Journalisten und transferieren munter ihre eigenen Werteansichten in die Welt.
Mein Eindruck: Die OBS teilt in ihrer Studie die Welt in gut und böse auf. Hier das arme Opfer namens Journalismus, dort der böse Dämon namens Content Marketing. Sorry, Freunde, die Rechnung geht so nicht auf.
Schlimmer noch: Das ist meines Erachtens ansatzweise selbst eine propagandistische Verzerrung (vor allem angesichts solch unsäglicher Vokabeln wie "zersetzend").
Content-Marketing-Schelte: Der beschränkte User?
Kritische Reflexion und Meinungsbildung sind eine Holschuld. (thinking unter CC0 1.0) |
Und auch das werfe ich dieser Studie vor: Was ist euer Menschenbild? Der Bürger als tumber Ochse, der vor Unternehmensbotschaften geschützt werden muss, weil er selbige nicht hinterfragt?
Natürlich sollten sich bei jeder Content-Marketing-Aktion die Initiatoren eindeutig zu erkennen geben. Aber Meinungsbildung und kritische Reflexion sind auch eine Holschuld. Gerne bemühe ich den alten Kant:
"Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen."
Botschaften jeglicher Coleur zu hinterfragen und sich ausgewogen zu informieren, kann niemandem abgenommen werden. Das muss jeder Einzelne selbst tun. Alles andere wäre – siehe oben – selbstverschuldete Unmündigkeit.
In einer Marktwirtschaft, die allen Anbietern Chancengleicheit bieten will, ist es absolut legitim, dass Unternehmen Content produzieren und publizieren. Das scheinbar per se und in toto als Manipulationsversuch oder gefährliche Desinformation abzutun, empfinde ich als respektlos und nicht haltbar.
Was Content Marketing ist – und was nicht
Bitte richtig verstehen: Content Marketing kann, will und soll kein Interpretationsjournalismus der Sorte spiegel.de, sueddeutsche.de oder faz.net sein. Und es ist für eine freiheitliche demokratische Grundordnung essenziell, diese Form und unabhängigen Anbieter von hochwertigem Informationsjournalismus zu haben.Aber es ist in meinen Augen absolut legitim, wenn Unternehmen mit hochwertig aufbereiteten und informativen Inhalten ihre Zielgruppen erreichen wollen.
Lasst es mich wissen: Wie schätzt ihr das Content Marketing ein?
Link-Tipps:
- Otto-Brenner-Stiftung: Content Marketing – Wie "Unternehmensjournalisten" die öffentliche Meinung beeinflussen
- Auf Kriegsfuß mit dem Web: Leidet der Journalismus an Altersstarrsinn?
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