Auf Kriegsfuß mit dem Web: Leidet der Journalismus an Altersstarrsinn?

Während der Online-Journalismus immer noch kein profitables Erlösmodell gefunden hat, kämpft der Print-Journalismus ums nackte Überleben. Ursache dieses Todeskampfes sind jahrzehntelange Gewohnheiten einer Branche, die sich stur weigert, das Digital-Zeitalter zu umarmen. Paywall-Abo-Zwang und Google-Blaming werden euch nicht retten. 


Euer Blogger hat Journalistik studiert und ist bis zum heutigen Tag ein News-Junkie:
Ob spiegel.de, sueddeutsche.de, faz.net oder zeit.de – News-Portale gehören zu meinen meistbesuchten Websites.

Ich habe Redaktionen von innen kennengelernt, als der Print-Journalismus noch blühte. Praktika-Stationen brachten mich um die Jahrtausendwende in die heiligen Hallen regionaler Tageszeitungen und überregionaler Zeitschriften.

Wie habe ich den klassischen Journalismus erlebt?

Prozessual als strikt getaktete Maschine: Es gab einen Redaktionsschluss, eine Uhrzeit, bis zu der alle Geschichten im Redaktionssystem sein mussten, um die Druckmaschinen anwerfen zu können. Auch seiner Rolle als Gatekeeper war man sich durchaus bewusst: Wer die Öffentlichkeit erreichen wollte, brauchte dafür die Presse.

Fast forward in das Jahr 2023: Dank Webseiten und vor allem Social Media kann heute jeder die Öffentlichkeit erreichen. Influencer besitzen Reichweiten, von denen klassische Medien nur träumen können. Was den Journalismus aber viel mehr schmerzt: User betrachten News als Gratis-Ware im Web. 

Problem: Statt die Chancen des Digital-Zeitalters zu erkennen und dem Online-Nutzungsverhalten gerecht zu werden, schaltet der Journalismus auf stur. 

Vorhang auf für ein Drama in vier Akten:

#1: Die Umsatz-Misere des Journalismus ist selbstverschuldet

"Dieses Internet – schauen wir mal, wie lange sich das hält". Selbst zu Beginn der 2000er gab es noch solche Einschätzungen in Chefredaktionen. Dabei sein wollte man dennoch und baute Online-Redaktionen auf. Letztere wurden stiefmütterlich bis feindselig beäugt, mindestens aber nicht für voll genommen (euer Blogger durfte das Anfang der 2000er als Praktikant bei Spiegel Online live miterleben).

Alle News-Portale starteten komplett gratis und blieben es lange Zeit. Man muss kein Diplom-Psychologe sein, um vorhersagen zu können, dass Menschen ungern für etwas Geld ausgeben, das sie jahrelang umsonst bekamen.

Anders formuliert: Hätte der Online-Journalismus bereits Ende der 90er-, allerspätestens Mitte der 00er-Jahre Bezahlschranken etabliert, hätte er heute a) kein Paywall-Akzeptanzproblem und b) stabilere Umsätze.

#2: Wer Google verklagt, hat die Online-Welt nicht verstanden – und seine Leserschaft auch nicht

Hier wird es seitens der Verlage – mit Verlaub – armselig. Da der Journalismus zu kurzsichtig war, frühzeitig ein tragfähiges Online-Umsatzmodell zu etablieren, sollen also jetzt die Tech-Riesen blechen. 

Das ist ungefähr so, als würde ich den neuen Partner meiner Ex-Frau auf Schadenersatz verklagen.

Offiziell wird diese Anspruchshaltung der Medien laut Wikipedia entlang des sogenannten Leistungsschutzrechts verargumentiert: Verlage müssten geschützt werden "vor systematischen Zugriffen [...] durch die Anbieter von Suchmaschinen und Anbieter von solchen Diensten im Netz [...], die Inhalte entsprechend einer Suchmaschine aufbereiten [...] (und dadurch) für die eigene Wertschöpfung auch auf fremde verlegerische Leistungen (zugreifen)."

Das ist in den Augen eures Bloggers haltloser Mumpitz, aus folgenden Gründen:

Punkt 1: Welche Inhalte ein Google-Suchtreffer ("Snippet") anzeigt, können Website-Betreiber problemlos steuern. Über Title-Tag, Meta Description, robots.txt sowie noindex-Tags können News-Portale selbst entscheiden, ob und wenn ja, wie ihre News als Google-Suchtreffer erscheinen.

Mehr noch: Sie können darüber steuern, wie stark der Suchtreffer zum Klick animiert. Eigentlich eine Paradedisziplin des Journalismus (starke Überschriften und Teaser texten). Warum also hier Gejammer?

Google dafür zu verklagen, dass es News-Artikel als Suchtreffer anzeigt, ist, als würde man dem Zeitschriftenhandel vorwerfen, Titelseiten gut sichtbar in seinen Auslagen zu platzieren.  

Punkt 2: Menschen googeln, weil es Google in den letzten 25 Jahren gelungen ist, ein höchst benutzerfreundliches Online-Informations-Tool bereitzustellen. Und nicht, weil sie keine Alternative zu Google hätten. Google ist nicht das World Wide Web, sondern eine von Milliarden Websites in diesem World Wide Web.

So wie klassische Medienberichterstattung Menschen auf Events aufmerksam macht und diese besuchen lässt, ermöglicht es Google den News-Portalen, auf ihre Inhalte reichweitenstark aufmerksam zu machen. Würde ein Event-Veranstalter die Presse verklagen, weil diese das Event angekündigt hat? Eben. 

Warum also verklagt die Presse Google? Antwort: Weil es ihr bis heute nicht gelungen ist, ein tragfähiges Online-Erlösmodell zu implementieren. Sich jetzt "gesundzuklagen" zeigt, wie verzweifelt Verlage sind. 

In meinen Augen wird das Leistungsschutzrecht vorgeschoben, um Einnahmen zu generieren, die Medien im Web aus eigener Kraft nicht erwirtschaften können – und deshalb zusehends in Panik geraten. 

Duden, übernehmen Sie:
"Far­ce, die [Substantiv, feminin]: 
Angelegenheit, bei der die vorgegebene Absicht, das vorgegebene Ziel nicht mehr ernst zu nehmen ist."

#3: Abo-Zwänge sind das Gegenteil einer guten User Experience

Stellt euch vor, ihr würdet nur dann eure Pizza beim Online-Lieferdienst bestellen können, wenn ihr ein fortlaufendes Pizza-Abo abschließt. 

Bescheuert? Yep. Genauso verhält es sich mit dem Abo-Zwang, den News-Portale Usern aufdrängen, wenn diese einen einzigen Paywall-Artikel lesen wollen.

User sind es gewohnt, via PayPal mit drei Klicks online Kleinstbeträge bezahlen zu können. Unverbindlich einen einzigen Artikel online kaufen können, läge nahe. Was machen die Medien: Sie versuchen auch hier, ein Erlösmodell aus dem Offline-Zeitalter auf Biegen und Brechen in die Online-Welt zu quetschen.

#4: Social Media ohne Sinn, Verstand und Dialog

spiegel.de, suedeutsche.de, faz.net und zeit.de gehören – ich hatte es eingangs erwähnt – zu meinen meistbesuchten Websites. Deshalb folge ich diesen Medien auch auf Social Media, zum Beispiel auf meiner Lieblingsplattform LinkedIn.

LinkedIn ist eine B2B-Plattform: Hier geht es um Themen aus dem Berufsleben und um Business-Networking. Was macht der klassische Journalismus dort? Er ballert in schlimmster Schrotschuss-Manier einen Artikel-Link nach dem anderen raus, ohne auch nur ansatzweise darauf zu achten, ob das Ganze thematisch passt. Community-Management (die Seele von Social Media) findet nicht statt.

Schlimmste Einbahnstraßen-Publizistik: Link zum Beitrag veröffentlichen und wegrennen. Was dann an Leser-Kommentaren unterhalb des Posts kommt, interessiert die Medien scheinbar nicht.

Letzteres ist ebenfalls ein ungutes Erbe des Offline-Journalismus: Das lesende Fußvolk wurde auf die Leserbrief-Seiten verbannt – nachdem vorher genau gefiltert wurde, welcher Brief genehm war und welcher nicht.

Diese Form von monodirektionaler Kommunikation funktioniert nicht in der Online-Welt: Wer kommentieren will, wird das tun. Sich auf LinkedIn mit User-Kommentaren auseinandersetzen? Offensichtlich undenkbar für den Journalismus. 

sueddeutsche.de musste ich kürzlich auf LinkedIn entfolgen. Grund war eine Flut von geposteten Artikeln mit Überschriften wie diesen: 

"Lydia L. suchte die Bekanntschaft alter, wohlhabenderer Herren, um sie zu pflegen. Einige der Männer überleben das nicht."

oder 

"Wer war die geheimnisvolle Frau, deren Leiche 1900 aus der Seine geborgen wurde?"

Die Süddeutsche stand einst für Qualitätsjournalismus. Bockmist wie der obige bewegt sich dagegen auf Bild-Zeitungs-Niveau. Und: Was um Himmels willen hat das auf einer B2B-Plattform zu suchen?

Nein, der Journalismus hat auch Social Media nicht verstanden. Stattdessen regiert hier ebenfalls die Not: Alles, was die Zahl der Page Impressions nach oben treibt, scheint willkommen (Click-Baiting). Qualität, Relevanz oder Zielgruppen-Ausrichtung? Fehlanzeige.
 

Verlags-Führungsetagen brauchen Onliner

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass an den Schalthebeln der Verlage nach wie vor eine Generation sitzt, die das Online-Zeitalter bis heute ablehnt. Dieser törichte Versuch, Geschäfts- und Umsatzmodelle aus dem Prä-Internet-Zeitalter in das Heute zu pressen, kann einfach nicht funktionieren.

Und so handelt es sich beim Journalismus um eine weitere Branche, die starrsinnig an längst überholten Prinzipien festhält – statt die Disruptions-Welle gewinnbringend zu reiten.

Wiktionary, Sie haben das Schlusswort:
"Realitätsverweigerung, die (Substantiv, feminin):
Einstellung, bei der jemand die Realität/Wirklichkeit nicht anerkennt"


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