Disruption vs. Evolution: So tickt die schöpferische Zerstörung

In seinem Klassiker-Buch "The Innovator's Dilemma" schildert US-Wirtschaftswissenschaftler Clayton M. Christensen, wie sich disruptive unternehmerische Ansätze von evolutionären unterscheiden. Warum können etablierte Unternehmen, die rein evolutionär denken, schnell scheitern?


Disruption bedeutet schöpferische Zerstörung.
(Sprießen / Pixabay-Lizenz)

Der evolutionäre Ansatz – Bestehendes besser machen

Der Duden definiert Evolution als "langsame, [...] fortschreitende Entwicklung [...]". Wortursprung ist lat. "evolutio", welches "das Aufschlagen (eines Buches)" beschreibt. Die Verbform "evolvere" bedeutet "entwickeln".

Es ist die klassische Vorgehensweise vieler etablierter Unternehmen: Bestehende Produkte oder Services sollen besser werden, um der bestehenden Zielgruppe einen Mehrwert zu bieten. Arbeitet das Unternehmen erwerbswirtschaftlich, sollen Umsätze steigen, Kosten sinken und die Handlungsautonomie sichergestellt werden. Dies geschieht in etablierten Märkten und orientiert sich an bestehenden Kundenanforderungen.

Christensen betont: Evolutionäre Prozesse erschüttern bestehende Märkte und Branchen selten, für führende Unternehmen sind sie meist nicht existenzbedrohend.

Der disruptive Ansatz – Nischen besetzen, Märkte erschüttern

Der Duden definiert disruptiv als "(ein Gleichgewicht, ein System o. Ä.) zerstörend". Wortursprung ist engl. "disruptive" ("störend, zerstörerisch"), welches wiederum auf lat. "disrumpere" ("zerreißen") zurückgeht.

Disruptiv handelnde Unternehmen wollen nicht Bestehendes verbessern. Stattdessen bieten sie in einer Branche Produkte und Services, die zunächst nicht mit den Angeboten der etablierten Unternehmen mithalten können – dafür aber häufig billiger und bequemer sind. Zielgruppe der disruptiven Herausforderer sind anfangs nicht die Kunden der etablierten Unternehmen, sondern eine kleine Gruppe neuer Kunden.

Im Spannungsfeld Evolution-Disruption gibt es folgende wiederkehrende Dynamiken:

➧ Etablierte Unternehmen schießen häufig über das Ziel hinaus: Sie wollen zwanghaft ihre bestehenden Produkte/Services verbessern (Evolution), um höhere Margen zu erzielen.

➧ Oft entstehen überfrachtete Angebote, die bestehende Kunden überfordern, sodass diese dafür kein Geld ausgeben wollen.

➧ Parallel interessieren sich etablierte Unternehmen nicht für die Marktsegmente und Zielgruppen der disruptiv handelnden Mitbewerber, da sie diese als unprofitabel und daher unattraktiv erachten.

So können etablierte Unternehmen zurückfallen und schließlich scheitern. Der disruptive Mitbewerber lässt die Nische hinter sich und zieht am einstigen Platzhirsch vorbei. Schön veranschaulicht in diesem Kurz-Video der Consultants von McKinsey (3:40 Min.):



Evolution vs. Disruption: Beispiele aus der Praxis

Aldi vs. traditioneller Einzelhandel: Bis in die 1980er Jahre galt Aldi (Al_brecht Di_skont) als "Arme-Leute-Laden". Der disruptive Ansatz: Aldi fokussierte zunächst ein Produktsortiment, das billiger als das des gängigen Lebensmittelhandels war. Das Warensortiment wurde bewusst schmal und flach gehalten.

Die Albrecht-Brüder adressierten einkommensschwache Zielgruppen, die für die damals etablierten Lebensmittelhändler weniger interessant waren. Mit fortschreitender Skalierung interessierten sich auch besserverdienende Bürger für das Aldi-Angebot. 2019 gehört Aldi zu den Top 5 der deutschen Lebensmittelhändler.

Airbnb vs. klassisches Hotelgewerbe: Brian Chesky, Joe Gebbia und Nathan Blecharczyk gründeten Airbnb 2008, nachdem sie keine bezahlbare Unterkunft in San Francisco finden konnten.

Elf Jahre später ist Airbnb in 100.000 Städten aktiv und bietet sechs Millionen Unterkünfte in 191 Ländern an. Zum Vergleich: Die größte Hotelkette der Welt, der US-Konzern Marriott International (Sheraton, Ritz-Carlton), besitzt knapp 1,5 Millionen Hotelzimmer. (Quelle: tagesschau.de)

Der disruptive Ansatz: Airbnb konzentrierte sich anfangs auf eine Zielgruppe, die für klassische Hotels uninteressant war – Personen, die möglichst günstig übernachten wollen ("Couch-Touristen"). Mit fortschreitender Skalierung interessierten sich auch traditionelle Hotel-Bucher für das Airbnb-Angebot.

Airbnb besitzt keine Immobilien, es bringt stattdessen datenbasiert das bereits bestehende Wohnangebot von Privatleuten mit der Nachfrage nach temporären Unterkünften zusammen. Das ermöglicht eine Skalierbarkeit, mit der klassische Hotelbetreiber nicht mithalten können, da sie hierfür massiv und permanent in neue Sachanlagen (= Hotelzimmer) investieren müssten.

Google vs. Yahoo / Altavista / Lycos: Ende der 1990er Jahre war Google ein kleines Start-up. Wer damals das Web durchsuchen wollte, nutzte Suchmaschinen wie Yahoo, Altavista oder Lycos. Die letztgenannten begannen, ihre Services zu überfrachten: Die Startseiten der etablierten Suchmaschinen-Anbieter erinnerten immer stärker an unübersichtliche News-Portale, die irgendwo auch eine Web-Suche integriert hatten.

Google dagegen machte markenkommunikativ und aus Usability-Sicht alles richtig: Bis zum heutigen Tag besteht die Startseite des Suchmaschinenriesen einzig aus dem Google-Logo und der Suchleiste. Der 1999-Startseiten-Vergleich macht es deutlich (powered by Waybackmachine – zum Vergrößern bitte in das Bild klicken):

Suchmaschinen Ende der 1990er Jahre.


Die disruptive Dimension: Die Platzhirsche Yahoo, Altavista und Lycos schossen über das Ziel hinaus, indem sie ihren Service überfrachteten und damit ihre Nutzer überforderten. Google blieb einfach und selbsterklärend (und bot zudem die bessere Suchtechnologie), sodass es bereits Anfang der 2000er zur Wachablösung kam.

Bis zum heutigen Tag gelingt es dem Suchmaschinenriesen, in den Köpfen der User die simple Gleichung "Google = Suche" zu verankern.

Fazit: Evolution alleine reicht nicht

Wie können etablierte Unternehmen sicherstellen, angesichts permanenter disruptiver Bedrohungen morgen noch wettbewerbsfähig zu sein? Antwort: Sie sollten selbst disruptiv vorgehen. Einspruch: Damit gefährden sie ihr bestehendes Kerngeschäft.

Korrekt. Deshalb empfiehlt sich die Strategie der "digitalen Dualität": Das bestehende Geschäftsmodell wird digital-evolutionär transformiert, das Bestehende also besser gemacht. Parallel entwickelt das Unternehmen neue, disruptive Geschäftsmodelle abseits seiner bestehenden. Sinnvoll ist es dabei, diese disruptiven Ansätze auch organisatorisch auszulagern, da sie im Kern-Unternehmen auf zu viele Widerstände stoßen würden.

Ausschließlich evolutionäres Unternehmertum gefährdet mittel- bis langfristig die eigene Wettbewerbsfähigkeit. Beispiele aus der Vergangenheit sind Kodak, Nokia, Neckermann und Yahoo. Sie wurden Opfer der schöpferischen Zerstörung.

Lasst es mich wissen: Wie sollten etablierte Unternehmen eurer Meinung nach auf disruptive Herausforderer reagieren?

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