Plattform-Ökonomie: Rettet ein Spotify-Modell den Journalismus?

Wie kann der Journalismus im Online-Zeitalter profitabel werden? Und: Wie kann er seiner Aufgabe gerecht werden, die Öffentlichkeit relevant und ausgewogen zu informieren, um ihr eine demokratische Meinungsbildung zu ermöglichen? Eine Studie der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen empfiehlt ein journalistisches Plattform-Modell in Spotify-Manier. Einige spannende Ergebnisse habe ich für euch zusammengefasst.

Symbolbild Journalismus
(News / Pixabay-Lizenz)

Der Titel der Studie lautet "Coopetition ist king – ökonomische Potentiale und medienpolitische Implikationen kooperativer Journalismusplattformen". 

Federführend durchgeführt wurde sie von den Wissenschaftlern Christian-Mathias Wellbrock (Hamburg Media School), Frank Lobigs (Technische Universität Dortmund), Lukas Erbrich (Technische Universität Dortmund) und Christopher Buschow (Bauhaus-Universität Weimar).

Wo steht der Journalismus 2023?

Bevor wir uns die Studien-Ergebnisse genauer anschauen, zunächst die Frage: Woher kommt der Journalismus, wie wir ihn heute kennen, und wie ist sein aktueller Zustand?

Journalismus in Deutschland, wie wir ihn heute kennen, war nach 1945 eine unmittelbare Reaktion auf die menschenverachtenden Verbrechen des Dritten Reichs: Um sicherzustellen, dass es in Deutschland nie wieder eine gleichgeschaltete Presse als Propaganda-Instrument geben würde, wurden Medien von einem staatlichen Zugriff entkoppelt.

➤ Die Pressefreiheit ist in Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes verankert. Sie garantiert, Nachrichten und Meinungen ohne staatliche Zensur veröffentlichen zu können. 

➤ So kritisch die Rundfunkgebühr gesehen wird: Auch sie ist ein Werkzeug, das eine unabhängige Berichterstattung sicherstellen soll.

Moderner Journalismus ist verpflichtet, Fakten zu respektieren und das Recht der Öffentlichkeit auf Wahrheit anzuerkennen.

➤ Der einzelne Bürger soll sich anhand einer pluralistischen Berichterstattung in den Medien eine Meinung bilden können. Pluralismus (von lat. pluralis, "aus mehreren bestehend") bedeutet, vielfältige Meinungen, Interessen und Ziele anzuerkennen und ausgewogen über sie zu berichten.

Kurzum: Ein handlungsfähiger, unabhängiger, ausgewogener Journalismus ist fundamental wichtig für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft. Entsprechend bedeutsam ist auch die Frage, wie und wohin sich der Journalismus im Zeitalter der Digitalisierung entwickelt. 

Dass Presseverlage wirtschaftlich zu kämpfen haben, betont auch die Studie der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen. Schauen wir uns einige ihrer spannenden Ergebnisse im Detail an:

Die wirtschaftliche Krise des Journalismus

Die Print-Auflagen deutscher Tageszeitungen sinken seit Jahren. Bezogen auf den digitalen Journalismus stellen die Studienmacher fest:

➤ Online-Auftritte deutscher Tageszeitungen verzeichnen zwar ein Umsatz-Zuwachs, dieses Plus entstehe aber großteils nicht in journalistischen Unternehmensbereichen, sondern sei auf das Online-Werbegeschäft zurückzuführen. 

➤ Erlöse über journalistische Online-Bezahl-Inhalte (Paywall-Artikel) spielten demnach eine untergeordnete Rolle: Web-Abos oder sogenannte "Plus-Angebote" machten weniger als 20 Prozent der Digital-Umsätze im Journalismus aus. 

➤ Nutzer seien mittlerweile zwar eher bereit, für digitalen Journalismus zu bezahlen, insgesamt sei diese Zahl-Bereitschaft aber nach wie vor schwach ausgeprägt.

Bezahlschranken im digitalen Journalismus: Ein gesellschaftliches Risiko?  

Die Journalismus-Studie betont weiterhin:

➤ Je stärker und flächendeckender Medien mit Bezahlschranken (Paywalls) im Web arbeiten, desto größer würde das Risiko, Bürger nicht mehr umfassend mit journalistischen Inhalten erreichen zu können. Ganze Bevölkerungsschichten könnten so von meinungsbildenden Inhalten ausgeschlossen werden.

➤ Diese Entwicklung sei in den USA bereits belegt (als Buchtipp nennen die Studienmacher "News for the Rich, White, and Blue – How Place and Power Distort American Journalism" von Nikki Usher).

➤ Je wirtschaftlich abhängiger Medien von einer zahlenden Online-Minderheit werden, desto größer sei die Gefahr, dass sie vorrangig nur noch Inhalte für diese "Paywall-Nischenzielgruppe" produzieren. 

➤ Laut der Studie zeige sich auch bei deutschen Medien die Tendenz, Themen datenanalytisch auszuwählen, um zahlungsbereite Zielgruppen bedienen zu können.

➤ Diese Entwicklung sowie die tendenziell teuren Bezahlschranken für journalistische Inhalte führten dazu, dass sich Teile der Bevölkerung noch stärker vom Journalismus abwenden, als sie es ohnehin bereits tun.

All diese Punkte der Studie zeigen: Der digitale Journalismus könnte sich aufgrund wirtschaftlicher Zwänge immer weiter von seiner Aufgabe entfernen, jedem Einzelnen die pluralistische Meinungsbildung in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zu ermöglichen.

Die Plattform-Ökonomie als Retter des Journalismus?

Was versteht man unter dem Begriff "Plattform-Ökonomie"? Eine knackige Erklärung meinerseits:

➤ Amazon, Facebook, Netflix, Airbnb, Ebay, Spotify und viele mehr: So unterschiedlich diese digitalen Plattformen auf den ersten Blick zu sein scheinen, so ähnlich sind sie sich in ihrer DNA. 

➤ Sie bringen datenbasiert Angebot und Nachfrage auf einem virtuellen Marktplatz zusammen.

➤ Es entsteht ein Öko-System, bestehend aus drei Instanzen: (1) viele Anbieter, (2) viele Nachfrager und (3) ein Plattform-Betreiber.

➤ Im Erfolgsfall wachsen digitale Plattformen dank indirekter Netzwerkeffekte exponentiell (= schnell und stark ansteigend): Je mehr anbietende Nutzer es auf der einen Seite der Plattform gibt, desto wertvoller wird die Plattform für nachfragende Nutzer auf der anderen Seite. 

➤ Beispiel Spotify: Je mehr Künstler und Plattenfirmen (= Anbieter) ihre Musik auf Spotify offerieren, desto mehr musikinteressierte Spotify-User (= Nachfrager) gibt es auf der anderen Seite. 

➤ Dies funktioniert auch in die andere Richtung, weshalb man von wechselseitigen indirekten Netzwerkeffekten spricht: je mehr Anbieter, desto mehr Nachfrager. Und je mehr Nachfrager, desto mehr Anbieter. Anbieter- und Nachfrager-Seite "schaukeln" sich so gegenseitig zahlenmäßig hoch.

Eine Art Spotify für journalistische Inhalte?

Die Studie der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen fragt: Wie könnte sich ein anbieterübergreifendes, abo-basiertes Plattform-Modell auf die Umsätze mit digitalen journalistischen Inhalten auswirken? 

Auf der Anbieterseite dieser digitalen Plattform gäbe es viele Verlage mit ihren journalistischen Inhalten (Online-Artikel). Auf der anderen Seite befänden sich viele Nutzer, die eine monatliche Flatrate zahlen, um übergreifend auf dieses gebündelte journalistische Angebot zugreifen zu können. Die Verlage blieben mit ihren journalistischen Angeboten auf der Plattform eigenständig (so wie es Musiker und Plattenfirmen auf Spotify oder Händler auf Amazon auch tun).

Die Analysten kommen anhand wissenschaftlicher Schätzmethoden und repräsentativer Befragungen zu folgenden Ergebnissen:

➤ Eine anbieterübergreifende, digitale Plattform für journalistische Inhalte könnte (verglichen mit journalistischen Einzelangeboten) die digitalen Abo-Verkäufe deutlich ankurbeln und mehr Bürger erreichen.

➤ Für Nutzer entscheidend seien ein günstiger Preis, ein benutzerfreundliches Format (eine Kombination aus Website, App und E-Paper) sowie der Umfang der Inhalte (Bündelung verschiedener Inhalte).

➤ Die Studie sieht die Chance, dass eine anbieterübergreifende Journalismus-Plattform auch diejenigen Bevölkerungsschichten erreicht, welche sich vom Journalismus abwenden (aufgrund einer niedrigen formalen Bildung, wenig Interesse an Politik und/oder einem geringen Einkommen).

➤ Der (auch im Studientitel enthaltene) Begriff "Coopetition" kombiniert die englischen Begriffe "cooperation" (Zusammenarbeit) und "competition" (Wettbewerb). Bezogen auf digitale journalistische Inhalte umschreibt er, dass journalistische Verlage auf einer gemeinsamen Plattform gleichzeitig konkurrieren und kooperieren würden.

Hat der Journalismus eine plattformökonomische Zukunft?

Soweit einige Kernergebnisse dieser äußerst spannenden Studie der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen. Ich halte die Ausführungen für sehr relevant und überlegenswert: 

Journalismus im Web scheint sich schon immer in einer wirtschaftlichen "Gratis-Sackgasse" befunden zu haben, aus der ihn auch der vorschlaghammerartige Einsatz von Paywalls nicht herausholen dürfte.

Ein wirtschaftlich unabhängiger, leicht zugänglicher, pluralistisch-ausgewogener Journalismus ist fundamental wichtig für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft. Die aktuelle Entwicklung vieler journalistischer Angebote in Richtung "Paywall-Overkill" und das thematische Fokussieren auf klickstarke (aber wenig gehaltvolle) Inhalte halte ich für sehr bedenklich. 

Diese "Boulevardisierung" des Journalismus wird seit jeher kritisiert, scheint sich aber im Digital-Zeitalter angesichts ausbleibender Umsätze nochmals zu verschärfen: Über Klicks sollen möglichst viele Seitenaufrufe (Page Impressions) generiert werden, um Werbekunden anzulocken. Wie gehaltvoll oder gehaltlos der dargebotene journalistische Inhalt dabei ist, scheint unwichtiger zu werden – eine Entwicklung, die sich leider immer stärker auch bei einstigen Qualitätsmedien beobachten lässt.

Könnte eine gemeinschaftliche digitale Journalismus-Plattform dem entgegenwirken und wäre sie realistisch umsetzbar? Es würde die Offenheit aller Beteiligten voraussetzen und die Frage aufwerfen, wer die Plattform betreibt. 

Losgelöst von der Frage, ob und wie ein Modell realisierbar wäre: Ich halte einen plattformökonomischen Ansatz für den Journalismus für äußerst interessant. Er könnte einen pluralistische digitale Berichterstattung ermöglichen, die frei von "Umsatzfixierungen" ihrem gesellschaftlich-demokratischen Informations-Auftrag vollauf gerecht wird.

Quellen:

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